Wie vernünftig ist der christliche Glaube?

Von Kurt Igler
Geralt/Photoopia

"Glauben heißt nicht Wissen", hört man immer wieder einmal. Und auf dem Klappentext des Bestsellers "Der Gotteswahn" von Richard Dawkins finden sich die Worte: "Religion ist irrational, fortschrittsfeindlich und zerstörerisch." Es ist ein weitverbreitetes Vorurteil, dass der Glaube (erst) dort beginnt, wo das Wissen aufhört; und dass folglich der Bereich des Glaubens immer kleiner wird, je mehr das Wissen der Menschheit wächst. Doch wie verhält es sich tatsächlich mit Verstand und Glaube, mit Vernunft und Religion? Sind sie getrennte Bereiche?  Haben Denken und Wissenschaft nichts mit Glaube zu tun, und umgekehrt der Glaube nichts mit Denken und Wissen? Oder sind sie gar miteinander deckungsgleich, sodass uns Verstand und Glaube notwendig zu den gleichen Erkenntnissen führen müssen? Die richtige Lösung liegt häufig in der Mitte, und so werde ich im folgenden argumentieren, dass Verstand und Glaube viel miteinander zu tun haben, eng miteinander verflochten, aber dennoch nicht deckungsgleich sind. Denn es gibt Wissensbereiche, die unserer menschlichen Vernunft nicht direkt zugänglich sind, die sich uns aber dennoch erschließen können...


Meine These ist, dass der christliche Glaube durch und durch vernünftig ist; aber dass er auch über das hinausgeht, was die menschliche Vernunft ohne übernatürliche Offenbarung erkennen kann. Er ist daher vernünftig und übervernünftig, natürlich und übernatürlich zugleich.

Um das näher auszuführen, möchte ich den Begriff der Vernunft erläutern. Was macht die menschliche Vernunft aus? Was kann die menschliche Vernunft leisten? Und welche Rolle spielt der christliche Glaube für die menschliche Vernunft?

Zunächst zur Definition von "Vernunft". In dem Wort steckt das Verb "vernehmen". Das ist wichtig, denn es zeigt uns, dass die Vernunft nach außen hin orientiert ist, dass sie etwas von außen auf sie Zukommendes vernimmt und erkennt. Den Verstand gebrauchen heißt nicht einfach, sich in seinem Zimmer einzuschließen, seinen eigenen Verstand zu befragen und mit den Lösungen für all die Fragen wieder herauszukommen, die man so hat. Sondern es heißt, zu vernehmen, wahrzunehmen, aufzunehmen, freilich dann auch zu analysieren, einzuordnen, Verbindungen und Zusammenhänge zu erkennen, etc.

Um etwas zu vernehmen, brauchen wir Wahrnehmungsorgane. Das sind zunächst unsere Sinnesorgane. Durch sie nehmen wir Gerüche, Berührungen, Bilder, Geräusche, Geschmäcker wahr. Durch unser Gehirn bzw. unseren Geist werden diese Wahrnehmungen zu verstehbaren Eindrücken, Erlebnissen und Begegnungen verarbeitet. Das führt uns aber bereits weit über die reinen Reizwahrnehmungen durch unsere Sinnesorgane hinaus. Die Erfahrungen unseres Lebens, so wie wir sie als Personen, als Wesen mit Leib und Seele, erleben, können nicht reduziert werden auf Physik, Chemie und die anderen Naturwissenschaften.

Genau diese Reduktion menschlichen Wissens und menschlicher Vernunft auf das, was die Naturwissenschaften nachweisen, messen und untersuchen können, ist ein großes modernes Verhängnis. Zweifelsohne haben Technik und Naturwissenschaft unglaubliche Fortschritte gebracht in der Beherrschung der Natur, in Medizin, Wirtschaft und Landwirtschaft, in Mobilität und Kommunikation. Diese Erfolge dürfen aber nicht dazu führen, dass man das, was man so souverän wissenschaftlich erforschen und beherrschen kann, als das Wichtigste oder gar alles betrachtet, was es zu wissen gibt oder was überhaupt existiert. Wäre nur das wirklich, was man naturwissenschaftlich untersuchen kann, dann wären die größten und wichtigsten Bereiche unseres Lebens bloß Einbildung oder Illusion, so wie der Genuss von Musik, die Liebe zum Ehepartner, die Freude an der Schöpfung, menschliche Kreativität, die Begegnung mit interessanten Menschen, Freundschaften, usw. Desgleichen alle ethischen, moralischen Überlegungen und Entscheidungen. Zumindest wären diese Dinge bloß körperliche, physiologische Vorgänge, Punkt.

Da mir das überhaupt nicht plausibel erscheint, gehe ich davon aus, dass die menschliche Vernunft nicht nur die Sinneseindrücke verarbeiten, sondern noch ganz andere Wirklichkeitsbereiche vernehmen, wahrnehmen kann. Sie kann im Bereich der Moral erkennen, was gut und was böse, was richtig und falsch ist. Sie kann im Bereich der Ästhetik erkennen, was schön ist. Und sie kann im Bereich der Philosophie zumindest teilweise erkennen, was wahr und was falsch ist. In all diesen Bereichen verhilft die Vernunft zu Erkenntnis, erschließt sie uns Bereiche der Wirklichkeit.

Wie ist es nun aber mit der Religion? Ist das jener Bereich, in dem die Vernunft keine Rolle mehr spielt, wo man Denken und Verstand an der Garderobe abgeben muss, um ins Innere zu gelangen?

Der Apostel Paulus scheint eine solche Sicht im 1. Brief an die Korinther zu bestätigen:
"Niemand betrüge sich selbst. Wer unter euch meint, weise zu sein in dieser Welt, der werde ein Narr, dass er weise werde. Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott. Denn es steht geschrieben (Hiob 5,13): 'Die Weisen fängt er in ihrer Klugheit', 20 und wiederum (Psalm 94,11): 'Der Herr kennt die Gedanken der Weisen, dass sie nichtig sind.'" (1Kor 3,18-20).

Nun ist das bestimmt kein Plädoyer für Unvernunft und Leichtgläubigkeit. Gerade Paulus betont, wie sehr es darauf ankommt, in religiösen Fragen alle Dinge zu prüfen, sich ein Urteil zu bilden, den einen, wahren, heilbringenden Glauben anzunehmen. Und dennoch konstatiert er, dass menschliche Klugheit und Weisheit nicht ausreichen, Gottes Wahrheit zu erkennen und anzuerkennen, ja dass es häufig gerade die nach menschlichen Maßstäben besonders Schlauen und Gebildeten sind, die zu den erbittertsten Gegnern der Botschaft von Jesus Christus werden.

Das liegt nicht an der Vernunft an sich. Sondern es liegt am Gebrauch der Vernunft. Das, was viele die "autonome" menschliche Vernunft nennen, widersetzt sich der Offenbarung Gottes. Die besonders Schlauen meinen häufig, es besser zu wissen als Gott. Sie meinen zu wissen, wie Gott die Welt regieren müsste, was er zulassen dürfte und was nicht, und in welcher Form er uns Menschen begegnen müsste, um von uns ernst genommen zu werden. Diese autonome, stolze, selbstherrliche Form der Vernunft ist Torheit bei Gott. Sie hat es aber auch deshalb schwer, Gott zu erkennen, weil sie nicht nur Gott Vorschriften machen will, sondern weil sie Gott überhaupt nicht will. Man will erkennen und anerkennen, was man will, und man will sein eigener Herr sein, das Leben nach den eigenen Vorstellungen führen und gestalten. Diese Vernunft wird Gottes Wege und Wahrheit nicht erkennen.

Es braucht daher eine vom Glauben erneuerte und beschenkte Vernunft, damit der Mensch in die ganze Wirklichkeit und Bestimmung seines Lebens hineinfindet. Die Wahrheiten des christlichen Glaubens sind nicht widervernünftig, sondern durch und durch vernünftig. Aber sie gehen über die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit hinaus, sie betreffen auch Bereiche, die dem Menschen aus sich heraus unzugänglich sind. Vernunft, Vernehmen heißt in diesem Fall einfach Hören auf das, was Gott sagt, weil wir es anders nicht erfahren können. Und im Falle des christlichen Glaubens, der biblischen Offenbarung, sind das großartige Mitteilungen von Gottes Liebe und Barmherzigkeit, vom göttlichen Ursprung unseres Lebens und unserer Bestimmung zu ewiger Freude und Herrlichkeit. Wir sollten deshalb den wiederholten Appell Jesu an unsere Wahrnehmungsfähigkeit und Vernünftigkeit sehr ernst nehmen: "Wer Ohren hat zu hören, der höre!"

© Kurt Igler, 2010

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