Die Krise unserer Gesellschaft und die Notwendigkeit einer christlichen Erneuerung

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Vortrag beim Alten Orden vom St. Georg
Kurt Igler, 18.2.2002

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich freue mich und sehe es als Vorrecht an, heute Abend zu Ihnen sprechen zu dürfen.  Ich war erst einmal in dieser Runde zugegen und möchte mich daher am Anfang ein wenig vorstellen, damit Sie eine Ahnung bekommen, wer hier vor Ihnen steht und was Ihn beschäftigt und bewegt.
 
Mein Name ist Kurt Igler, ich stamme aus der Steiermark, und bin verheiratet mit Claudia, einer Siebenbürger Sächsin.  Wir erwarten in einigen Wochen unser viertes Kind.  Ich bin Pastor der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden in Österreich.  Ich habe allerdings einen gemischten kirchlichen Hintergrund: ich entstamme einer lutherischen Familie, bin acht Jahre im katholischen Abteigymnasium in Seckau in die Schule gegangen, und habe mich schließlich im Verlauf meines Theologiestudiums der freikirchlichen protestantischen Richtung angeschlossen.  Ich möchte jedoch schon an dieser Stelle betonen, dass mein Herz nicht in erster Linie für eine bestimmte christliche Denomination schlägt, sondern für die Sache Jesu, die breiter und umfassender ist als die Anliegen einzelner Kirchen.  Und das kommt hoffentlich auch in diesem Referat zum Ausdruck...


Seit bald 5 Jahren bin ich hauptberuflich in Simmering in einem Gemeindegründungsprojekt tätig.  Wir sind dort am Leberberg eine kleine Gruppe engagierter Christen, die sich am Freitagabend zum Singen, Beten und Bibelstudium trifft, und unser Bemühen geht dahin, eine freikirchliche Gemeinde aufzubauen.  Wir leben dort in einem Stadtteil, in dem der Kirchenbesuch extrem niedrig ist, in einem Einzugsgebiet von ca. 20000 Menschen lässt sich buchstäblich eine Handvoll am Sonntag in einer Kirche blicken.  Die Entchristlichung ist dort sehr weit fortgeschritten, die Ahnungslosigkeit der Menschen in allen Belangen des Glaubens ist erstaunlich.  Es wird uns in dieser Arbeit sehr bewusst, dass wir in einer nachchristlichen Gesellschaft leben, in der die christliche Evangelisation ganz von vorne beginnen muss.

Wie kommt es nun, dass ich heute zu ihnen über das Thema der gesellschaftlichen Krise und der Notwendigkeit einer christlichen Erneuerung spreche?

Es begann damit, dass ich unmittelbar nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 einen Artikel an die Redaktion der "Presse" schickte mit der Frage, ob sie an einer Veröffentlichung interessiert wären.  Und tatsächlich erschien der Artikel über geistige Hintergründe von Manhattan am 14. September als Gastkommentar auf Seite 2.  Durch diesen Artikel wurden Ihr Herr Gouverneur und Ihr Herr Kanzler auf mich aufmerksam, und wir trafen uns zum Kennenlernen und zum gemeinsamen Austausch über die kritische Lage, in der der Westen von den Anschlägen getroffen wurde.  Wir sprachen auch über die Notwendigkeit einer Veränderung des allgemeinen Denkens und der Lebensweise in unserem Land.  Und über die Rolle, die die Christen dabei spielen können und sollen.  Daraufhin wurde ich eingeladen, heute Abend zu diesem Thema zu reden.

Es wird also in meinem Referat zunächst um eine Analyse unserer gesellschaftlichen Situation gehen, wobei mir sehr bewusst ist, dass meine Beurteilung subjektiv und vor allem aus dem Blickwinkel des Theologen erfolgt; auch kann ich nur einen kleinen Teil dessen anreißen, was zur Gesellschafts-analyse zu sagen wäre.  Ich bin kein Soziologe, kein Meinungsforscher, kein Politologe oder Zeitgeschichtler.  Dennoch glaube ich, dass meine Beobachtungen einen Anhaltspunkt in der gesellschaftlichen Realität haben und Sie mir in Vielem werden zustimmen können.  Ich verstehe mich selbst als einen Christen und kritischen Zeitgenossen, der begreifen möchte, woher wir kommen und worauf wir uns als Gemeinschaft zubewegen.

Im zweiten Teil möchte ich dann über die Notwendigkeit, aber auch über das Wie einer christlichen Erneuerung sprechen.  Selbst wenn man die Notwendigkeit einer geistigen und geistlichen Wende erkennt, so stellt sich doch auch die Frage, was die wesentlichen Elemente einer solchen Erneuerung wären und wie man auf sie hinwirken könnte.

Mein Zugang zu diesem ganzen Fragenkomplex war ein sehr persönlicher.  Schon seit längerer Zeit hatte ich das Gefühl, dass wir in einer Zeit großer Unsicherheit leben, einer Zeit großer Veränderungen und Umbrüche, auch großer Orientierungslosigkeit und Angst.  Was ist das für eine Zeit, in der wir leben?  Was sind die Zeichen unserer Zeit, worauf weisen sie hin?  Diese Fragen bewegten mich.

Die heutige Unsicherheit rührt zum Teil sicher von den großen technischen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte her.  Ich brauche hier nicht näher darauf einzugehen, möchte nur einige Stichworte erwähnen wie Globalisierung der Wirtschaft, elektronische Revolution, Zusammenbruch des Kommunismus, Turbokapitalismus, 68-er Kulturrevolution, Multikulturalismus, usw. Es ist noch gar nicht abzusehen, wohin diese gegenwärtigen Veränderungsprozesse noch führen werden.

Mein persönliches Bestreben ging aber dahin, hinter diesen vielfältigen Veränderungen und Umbrüchen größere, auch geistesgeschichtliche und kulturelle, Zusammenhänge zu erkennen, um all diese Entwicklungen besser verstehen und einordnen zu können.  Ich wollte die Gesamtbewegung unserer Zeit wenigstens ansatzweise erkennen.  Dazu habe ich mich mit verschiedenen Autoren auseinandergesetzt, und am Hilfreichsten waren für mich die Bücher eines deutschen christlichen Philosophen, Günter Rohrmoser.  Einige der folgenden Gedankengänge gehen in erster Linie auf ihn zurück, ergänzt durch andere Lektüre und eigene Beobachtungen und Eindrücke.

I. Die Krise unserer Gesellschaft

A. Krisen durch Umbrüche im öffentlichen Leben
Wenn ich von einer "Krise unserer Gesellschaft" spreche, dann ist es zunächst nicht schwer, verschiedene Krisenherde ausfindig zu machen.  Es gibt eine Krise der Politik in unserem Land, ganz unabhängig davon, wie man den letzten Regierungswechsel mit allen Begleiterscheinungen beurteilt.  Das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Politiker schwindet.  Alte politische Konzepte und Positionen sind in Auflösung begriffen.  Für die neuen Herausforderungen fehlen vielfach die geeigneten Werkzeuge.  Darüber hinaus verliert der Nationalstaat an Entscheidungskompetenz angesichts global agierender Konzerne und Syndikate.  Aber auch die Abgabe von Kompetenzen an überstaatliche Organisationen und Gremien bringt große Probleme mit sich.  Das zeigt sich gerade auch in der Europäischen Union.  Der Ton in der Politik wird rauer.  Die Krise des Sozialstaats birgt manchen sozialpolitischen Zündstoff.  Es ist anzunehmen, dass sich die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe in Zukunft radikalisieren.

Eine gewaltige Herausforderung stellt auch die demographische Entwicklung dar.  Die nächsten Jahrzehnte werden charakterisiert sein von einer Überalterung der Gesellschaft mit all den Problemen im medizinischen, pflegerischen Bereich, den Problemen für die Sozialversicherungen, den Belastungen für die Familien usw.  Zur steigenden Lebenserwartung (liegt zur Zeit bei Männern bei 75, bei Frauen bei 81 Jahren) gesellt sich der erschreckende Geburtenrückgang.  Gab es zu Beginn der 90er Jahre noch ungefähr 95 000 Geburten pro Jahr in Österreich, so hat sich die Zahl seither laufend reduziert und liegt zur Zeit bei ca. 78 000.  Ebenfalls kontinuierlich verringert hat sich die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau auf 1,34 (1998).  Dabei müsste diese Zahl bei etwas über 2 liegen, damit die Bevölkerungszahl gleich bleibt (Zuwanderung natürlich unberücksichtigt).
Dazu kommt, dass nun die extrem starken Jahrgänge vom Beginn der 60er Jahre das gebärfähige Alter hinter sich lassen und die weitaus geburtenschwächeren Jahrgänge Kinder bekommen.  Bei gleichzeitig sinkender durchschnittlicher Kinderzahl bedeutet das eine Potenzierung des Geburtenrückgangs.  Dabei werden nach wie vor Zigtausende von Kindern jährlich abgetrieben, in einem der wohlhabendsten Länder der Welt - und man kann wohl kaum ermessen, welche Gewissensnot, aber auch welche Schuld dadurch auf unserem Volk lastet (Schätzungen belaufen sich zwischen 20000 und 10000 Abtreibungen pro Jahr in Österreich).

Natürlich befinden sich Ehe und Familie auch in einer tiefen Krise.  Es ist müßig, die ständig steigenden Scheidungsraten zu zitieren, bei ständiger Zunahme von nichtehelichen Lebensgemeinschaften und unehelichen Geburten.  Man kann sich das Leid hinter den Zahlen wohl kaum vorstellen, für die Geschiedenen wie auch besonders für ihre Kinder.  Patchworkfamilien werden der Normalfall.  Familien leben häufig an der Armutsgrenze, und die Lebensbedingungen für Familien sind nicht gerade einfach.

Die Vereinsamung der Menschen ist erschreckend:  In Wien beträgt die durchschnittliche Haushaltsgröße 1,95 Personen; ca. 45 % der Wiener Haushalte sind Einpersonenhaushalte!!

Die Krise der Kirchen ist auch nicht zu übersehen.  Der Mitgliederschwund nimmt dramatische Ausmaße an; gehörten vor einigen Jahrzehnten noch weit über 90 % der österr. Bevölkerung einer christlichen Kirche an, so sind es heute nur mehr etwa 72 %.  In Wien sind weniger als 50 % der Bev. noch römisch-katholisch, ca. 4 % evangelisch.  Der Kirchenbesuch geht zurück, ist bei den Katholiken allerdings noch bedeutend besser als bei den Evangelischen.  In Neubaugebieten gelingt es den Kirchen kaum noch, die Menschen zu erreichen.  1990: 19% der Jugendlichen wöchentlich im Gottesdienst; 2000: 9%.  Ein interessantes Faktum aus Wien (aus "Die Konfliktgesellschaft: Wertewandel in Österreich 1990-2000): 36% besitzen Talisman od. Glücksbringer; 25% beten mehrmals in der Woche.  Und selbst von den Kirchenmitgliedern identifiziert sich nur mehr ein kleinerer Teil mit den substantiellen Glaubensinhalten wie dem apostolischen Glaubensbekenntnis.

Weitere Krisen, die man nennen könnte: Medienkrise, Kulturkrise, Erziehungskrise, usw.

B. Krisen durch Umbrüche in den Moral- und Wertvorstellungen
Zahlen allein erfassen freilich nur einen Teil der Wirklichkeit, sie sind Symptome für Entwicklungen im Bereich der Moral, der Wertvorstellungen, des Denkens.  Und wenn man diesen tieferen Ursachen nachgeht, kommt man wohl zu noch erschreckenderen Ergebnissen.

Die Krise der Familie beispielsweise hängt meiner Ansicht nach mit folgenden Faktoren zusammen: da ist zum einen der Trend zur individuellen Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit.  Man geht das Risiko nicht mehr ein, auf den Ehepartner angewiesen zu sein, eine Einheit zu bilden, von der das eigene Leben abhängt.  So lässt man sich auch nur bedingt aufeinander ein, auf Zeit, mit jederzeitiger Ausstiegsmöglichkeit.  Man hat keine Ehegatten mehr, sondern "Lebensabschnittspartner".  Begriffe wie Treue, Opferbereitschaft, Hingabe, Verzicht, Nachgeben, Vergebung, usw. spielen kaum noch eine Rolle.  Entsprechend oberflächlich ist die Qualität der Beziehungen.

Ein zweiter Faktor ist die heutige Sexualmoral.  Sexuelle Aufklärung und Aids-Prävention in der Schule beschränken sich darauf, sexuelle Praktiken und Fakten darzustellen, und auf die Notwendigkeit der Verwendung von Kondomen hinzuweisen, um sich zu schützen.  Ein wirklich alternativer, wirklich sicherer, christlicher Weg wird den Schülern nicht mehr zugemutet, nicht mehr empfohlen, meist überhaupt nicht mehr vorgestellt.  Enthaltsamkeit vor der Ehe gilt als lächerlich.

Ein drittes Moment bei der Krise der Ehe ist der Verlust des Bewusstseins, dass die Ehe eine göttliche Einrichtung ist, eine heilige Sache, hinter der Gott segnend und schützend steht, deren Missachtung aber auch sein Missfallen erregt.  Wer geht heute noch mit der Herzensbitte um Gottes Segen in eine Ehe, mit dem festen Vorsatz, dem Partner um Gottes willen und mit Gottes Hilfe treu zu sein und beizustehen, bis dass der Tod einen scheide?  Nur eine solche Haltung wird jemanden dazu bewegen, in einer Krise am Ehegatten festzuhalten und nicht vorschnell das Handtuch zu werfen.

Wir sehen also anhand des Beispiels der Ehekrise einen tiefen Mangel an charakterlichen Qualitäten, die eine Ehe gelingen lassen, und einen Verlust des Bezugs zu transzendenten Wirklichkeiten wie der göttlichen Stiftung der Ehe.

Und wie weit der Verlust an Sinnorientierung fortgeschritten ist, zeigt ein Umfrageergebnis vom Jahr 2000: Für zwei Drittel unserer Bevölkerung besteht der Sinn des Lebens lediglich darin, "das Beste herauszuholen." (Die Konfliktgesellschaft, S. 12.)

C. Von den Krisen zur Gesamtkrise
Soweit einige Krisenherde unserer Gesellschaft und einige tieferliegende Ursachen im Bereich von Moral, Überzeugungen, und Tugenden.

Was bringt mich aber dazu, von "der" Krise unserer Gesellschaft zu sprechen?  Bin ich ein Kulturpessimist, ein Moralist, der sich einfach ärgert über den unchristlichen Zustand unserer Gesellschaft?

Ich denke, dass sich hinter den einzelnen Krisensymptomen und Krisenherden eine Gesamtkrise verbirgt, die uns einer sehr ungewissen und potentiell düsteren Zukunft entgegengehen lässt.  Was ich damit meine, will ich im Folgenden näher ausführen.

Rohrmoser spricht davon - und er beruft sich dabei auch auf eine Reihe anderer Philosophen und Kulturtheoretiker - dass wir auch geistesgeschichtlich an der Wende zu einer neuen Ära stehen.  Eine Epoche geht zu Ende, eine neue, noch vielfach unbekannte, zieht herauf.  Was für ihn zu Ende geht, ist das Zeitalter der Moderne, der Aufklärung, der Utopie.  Augenfälligstes Beispiel dafür ist der Untergang des Kommunismus.  Laut Rohrmoser stellte der Kommunismus den konsequentesten Versuch dar, das Programm der Moderne umzusetzen.  Es ging darum, mit Hilfe der Wissenschaft und dadurch, dass der Mensch sein Schicksal endlich selbst in die Hand nahm, eine Art irdisches Paradies zu schaffen.  Man wollte einen Zustand gesellschaftlicher Freiheit und Gleichheit erreichen, in dem jede Unterdrückung, Ausbeutung und Fremdbestimmung abgeschafft sein würden und der Mensch sich ungehindert verwirklichen und entfalten könnte.  Durch bewusste und zielgerichtete Veränderung der gesellschaftlichen Umstände würde der Mensch wahrhaft frei und glücklich werden.

Genau diese Utopie sei aber durch das Ende des real existierenden Sozialismus widerlegt, habe sich als Irrglaube erwiesen.  Damit sei aber der ganze Versuch, aus Menschenkräften und auf dem Weg völliger Emanzipation und Selbstbestimmung das Heil für den Menschen zu schaffen, ans Ende gekommen, auch im Westen.  Es gibt keine Utopien, keine großen und erstrebenswerten, allen Einsatz mobilisierenden Zukunftsvisionen mehr.  Pessimismus, Zukunftsangst, Unsicherheit machen sich breit.

Durch die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik ist ein nie gekannter Wohlstand erreicht worden, und doch hat der Mensch nicht das Glück und die Erfüllung erreicht.  Im Gegenteil, die sozialen Konflikte nehmen zu, die Solidarität schwindet, Egoismus und Rücksichtslosigkeit brechen sich Bahn.  Selbst so liberale Denkerinnen wie Marion Gräfin Dönhoff warnen vor dieser Entwicklung, vor der Konsum-und Raffgesellschaft, vor dem Verlust gesellschaftlichen Verantwortungsgefühls, vor mangelndem Gemeinsinn, sogar vor dem "metaphysischen Vakuum" der Gegenwart. Man warnt von der "Hegemonie der Ökonomie", vor purem Materialismus und Pragmatismus.  Es ist keineswegs so, dass nach dem Ende des Kommunismus der liberale westliche Kapitalismus innerlich erstarkt und dabei ist, sich weltweit durchzusetzen.  Dieser Optimismus schwand rasch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.  Nicht westlicher Liberalismus ist auf dem Vormarsch, sondern ein neuer Nationalismus und die Rückkehr der Religion in die Politik.  Und der westlichen Gesellschaft kommt in dieser Umbruchszeit mehr und mehr das geistige, moralische, religiöse Rückgrat abhanden.  Zitat Dönhoff, Zivilisiert den Kapitalismus, S. 222: "Die Demokratie ist bei uns nicht durch rechtsradikale Gruppen gefährdet, sondern allein durch sich selbst; durch Übertreibung ihrer eigenen Prinzipien, also durch ausufernde Marktwirtschaft und unbegrenzte Freiheit."

Dazu kommt, dass die Aufklärung über alles aufgeklärt hat, alle Autoritäten in Frage gestellt, alle Traditionen hinterfragt hat und keine Verbindlichkeiten und Überzeugungen übrig gelassen hat.  Sie hat sich "zu Tode aufgeklärt".  Es verbleibt nichts mehr, worüber man noch nicht aufgeklärt, was noch nicht entzaubert, nicht enttabuisiert wäre.  Eine große Gleich-Gültigkeit ist die Folge, ein unglaublicher Pluralismus und Individualismus.  Aufklärung und Liberalismus, so Rohrmoser, konnten aber nur gut gedeihen auf dem Humus des Christentums; erodiert dieser Boden, so drohe das Chaos.

Denn mit diesem aufklärerischen Relativismus kann der Mensch auf Dauer nicht leben.  Ich bin überzeugt, dass der Mensch immer etwas braucht und sucht, um sein religiöses Verlangen zu stillen.  Der Mensch hat eine spirituelle Dimension, die auf Dauer nicht unbesetzt bleiben kann.  Deshalb beobachten wir heute eine enorme Zunahme von Religiosität, allerdings weitgehend unchristlicher Natur.  New Age, fernöstliche Religionen, Magie, Wahrsagerei, Okkultismus üben auf viele große Anziehungskraft aus.  Auch auf religiösem Gebiet ist allerdings ein großer Individualismus und Pluralismus zu beobachten, man sucht sich die Versatzstücke für die private Religion aus den verschiedensten Religionen und Weltanschauungen zusammen.

Nietzsche sprach von einer kommenden "atomistischen Revolution", von einer "Umwertung aller Werte."  Es scheint, als seinen wir voll in dieser Zeit angekommen.  Individualisierung, Vereinsamung, Subjektivismus, Relativismus sind Aspekte dieser atomistischen Revolution.  Werte sind nicht mehr absolut, allgemein verbindlich, sondern veränderlich, relativ, Mittel zum Zweck.  Sie werden ausverhandelt oder mit Gewalt durchgesetzt, aber sie haben keine absolute metaphysische Verankerung mehr.

Hält man sich das vor Augen, wird die Behauptung einer Gesamtkrise unserer Gesellschaft noch plausibler.  Es fehlen unserer Gesellschaft immer mehr die entscheidenden Gemeinsamkeiten, die ein gelingendes Zusammenleben, eine gemeinsame Willensbildung überhaupt erst ermöglichen.  Jede Gesellschaft braucht einen bestimmten Grundkonsens, ohne den sie nicht entscheidungsfähig und lebensfähig ist.  Zu diesem Grundkonsens gehören gemeinsame transzendente, verbindliche Werte, gemeinsame politische Ziele, gemeinsame Überzeugungen vom Guten, vom Wahren, vom Gerechten, vom Erstrebenswerten.  All diese Gemeinsamkeiten sind in Auflösung begriffen.  Es waren in Europa bislang christliche Werte und Überzeugungen, die die Bevölkerung zusammengehalten haben und durch die wir noch da stehen, wo wir stehen.  Wir leben noch, wie ein deutscher Theologe, Klaus Bockmühl, treffend formulierte, vom "Duft eines leeren Kelches."  Was aber, wenn sich dieser Duft endgültig verflüchtigt hat?

(Symptomatisch für die Krise des Westens war übrigens wohl auch die Reaktion auf die Anschläge vom 11. September.  Wie verständnisvoll waren Viele für die radikalen Moslems, wie selbstkritisch gegen alle westliche Politik und Religion.  Wie unbegreiflich für Viele, dass es jemand geben kann, der uns im Westen hasst; das muss doch ein Missverständnis sein!  Oder haben wir sie wirklich so sehr provoziert, dass sie so reagieren?  Es ist sicherlich eine Tugend, zuerst vor der eigenen Tür zu kehren; und ich möchte auch nicht die ganze westliche Politik gegenüber der dritten und der islamischen Welt verteidigen.  Aber gerade in Europa hat die Selbstkritik dominiert, nach dem Motto: geschieht uns schon recht, bzw. der Antiamerikanismus und das Appeasement.  Dass es  Bedrohungen geben kann, denen man widerstehen muss, das wollten Viele einfach nicht wahrhaben.  Auch nicht, dass wir viele Errungenschaften besitzen, die es wert sind, verteidigt zu werden, nicht zuletzt unsere Freiheit, der Rechtsstaat, die Demokratie.  Und dass wir selbst dabei sind, diese Schätze zu verschleudern.  Außerdem konnten die Wenigsten mit der religiösen Motivation der Islamisten etwas anfangen, weil die Religion für die Menschen im Westen eben nichts Packendes, Bewegendes, Veränderndes mehr ist.  Aber wenn man die andere Seite nicht wirklich versteht, kann man ihr auch nicht richtig begegnen.)

Der Liberalismus tut sich sehr schwer in Krisenzeiten.  Man kann leicht liberal, tolerant und pluralistisch sein, solange Frieden herrscht, solange man im Wohlstand lebt, solange die Gesellschaft noch einigermaßen zusammenhält.  Wenn sich aber der Zusammenhalt auflöst, wenn die Konflikte zunehmen, wenn der zu verteilende Kuchen kleiner wird, dann braucht man verbindliche, gemeinsame Werte und Überzeugungen, Menschen, die sich an anerkannte Grundsätze halten.  Ansonsten kann es sehr rasch zu chaotischen öffentlichen Zuständen kommen.  Und der 11. September hat gezeigt, wie schwach das Fundament an Überzeugungen und moralischer Kraft speziell in Europa ist.

Ich glaube, dass wir heute vor gewaltigen Herausforderungen stehen; dass die Zeiten nicht leichter, sondern schwerer werden; und dass die allgemeine Orientierungslosigkeit und Gleich-Gültigkeit sehr bedenklich stimmen muss, ob wir die Herausforderungen bewältigen und die Probleme lösen können.  Wer könnte behaupten, dass unsere westlichen Gesellschaften vor geistiger Kraft, vor Überzeugung, vor Zukunftshoffnung, vor Optimismus strotzen?  Das Gegenteil ist der Fall.

Doch Klagen und Jammern führt nicht weiter, ist auch bestimmt nicht Aufgabe der Christen.  Christen sollen zwar realistisch, aber auch Hoffnungsträger sein.  Das Kommen Jesu in die Welt und sein Wiederkommen sind ein Bezugsrahmen, der Zuversicht gibt, der uns motiviert, schon jetzt für das Reich Gottes zu leben und der Neuen Welt Gottes entgegenzuarbeiten.

Wie kann ein solcher Einsatz für das Reich Gottes in der heutigen Lage aussehen?  Was heißt es, sich für das Reich Gottes einzusetzen?  Damit bin ich beim zweiten Teil, bei der Notwendigkeit einer christlichen Erneuerung unserer Gesellschaft.


II. Die Notwendigkeit einer christlichen Erneuerung

Ich denke, der Exodus aus den Kirchen, der Schwund der Gottesdienstbesucher, der Verlust christlicher Werte und Überzeugungen bietet vielen von uns Anlass zur Sorge.  Man könnte dazu neigen, der "guten alten Zeit" nachzutrauern und sich eine Renaissance der christlich-abendländischen Epoche zu wünschen.  Man könnte eine Erneuerung christlicher Kultur und Traditionen ersehnen.  Und ganz bestimmt wäre eine derartige Renaissance wünschenswert, wenn man auch das Rad der Geschichte nie zurückdrehen kann und die Vergangenheit nicht verklären darf.

Aber gerade eine solche Neubelebung christlicher Wertvorstellungen, Traditionen und Kultur ist wenig wahrscheinlich und praktisch nicht mach-bar (Betonung auf Machen).  Die meisten jungen Leute werden auf solche Vorschläge oder gar Aufforderungen nicht gerade begeistert reagieren.  Menschen mit christlichen Überzeugungen werden als Reaktionäre betrachtet, als Miesmacher, als Moralisten, als Ewiggestrige usw.  Ich glaube, ein solcher Versuch einer christlichen Erneuerung hieße, das Pferd vom falschen Ende her aufzuzäumen.

Damit komme ich zu meiner Hauptthese:  ich bin überzeugt, dass eine wirklich tiefgreifende, wirksame Erneuerung unserer Gesellschaft, unseres Volkes, nur durch eine radikale Glaubenserneuerung geschehen kann.  Von der Wurzel her, von der persönlichen Gottesbeziehung jedes Einzelnen her, muss die Veränderung kommen.  Nur eine erneuerte Gottesbeziehung setzt die schöpferischen Kräfte frei, die Herausforderungen der Zukunft anzupacken, die Zukunft im Sinne Gottes zu gestalten, und unsere Kultur aus dem Evangelium heraus zu erneuern.

Aber wie kann diese Glaubenserneuerung geschehen?  Wie kann heute eine solche aussehen?

Der Beantwortung dieser Frage ist der Schluss meines Vortrags gewidmet.  Wiederum möchte ich hier persönliche Erfahrungen einflechten, da ich selber ein junger Mensch war, für den christlicher Glaube etwas Verstaubtes und für den Alltag kaum Relevantes war, und der eine solche Glaubenserneuerung erlebt hat.

Ich glaube, dass die christlichen Kirchen einen radikalen Kurswechsel vornehmen müssen, wenn sie die Herzen der Menschen neu erreichen und auch neu gesellschafts- und kulturprägend wirken wollen.

Zunächst muss christlicher Glaube raus aus den Kirchenmauern und christlichen Ghettos.  Für mich als Jugendlichen war Christentum der Besuch religiöser Veranstaltungen mit etwas mystischem und esoterischem Charakter, ein Ritus für bestimmte Anlässe, aber nichts Lebensprägendes und "Welt-bewegendes".  Die religiöse Sprache war für mich schwer verständlich, die Musik entrückt und ein wenig unheimlich (bes. der gregorianische Choral, aber den will ich gar nicht kritisieren).  Aber ich glaube, das größte Problem war für mich die Abspaltung der religiösen Sphäre von der Alltagswelt.  Es fehlte einfach der Bezug zu meinem persönlichen Leben in der Schule, mit den Freunden, in der Familie, in meiner Freizeit, usw.  Das müsste ganz anders werden, wenn die Kirchen an die jungen Menschen herankommen wollen.  Die Trennung von Sakral und Profan, von Sonntag und Alltag, von Heilig und Gewöhnlich, auch von Klerus und Laien, müsste überwunden werden.  Übrigens spricht das Neue Testament tatsächlich und ausdrücklich vom Priestertum aller Gläubigen und vom unmittelbaren Zugang zu Gott durch den Glauben an Jesus Christus.  Dieser unmittelbare Zugang im Glauben und die volle Glaubenskompetenz jedes Christen müssten neu entdeckt werden.

Aber dann müsste sich ein weiterer, noch entscheidenderer Punkt ändern.  Ich spreche jetzt von meiner persönlichen Erfahrung in der lutherischen Kirche, aber man kann sie bestimmt nicht nur dort machen.  Ich habe in den Gottesdiensten viel von christlichem Engagement, von Nächstenliebe und sozialem Engagement gehört - und all das gehört natürlich zum christlichen Glauben dazu.  Aber ich habe nie ausdrücklich gehört, wie ich eine persönliche Beziehung zu Gott, zu Jesus Christus, überhaupt erst bekommen kann, und wie man Gott persönlich begegnen und ihn kennenlernen kann.  "First things first", sagen die Amerikaner, und sie haben recht.  Ich kann nicht alles Mögliche über das christliche Leben sagen, christliches Engagement von den Menschen erwarten, ohne ihnen erst einmal zu sagen, wie man ein Christ wird.  Ich kann nicht das Befolgen einer Ordensregel von jemandem erwarten, der kein wirkliches Ordensmitglied ist.  Der würde das als Nötigung empfinden.  Ein Christ zu werden, das bedeutet eine Entscheidung für ein alternatives Leben, für ein Leben in Abhängigkeit von Gott, im Gehorsam gegen Gott, im Vertrauen auf Gott.  Und diese Entscheidung muss zuerst kommen.

Natürlich ist mir bewusst, dass ich mich hier auf schwieriges Terrain begebe, aber ich behaupte von mir selbst, dass ich bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr zwar christlich erzogen worden war, irgendwie sicher an Gott geglaubt habe, aber das Entscheidene vom Glauben an Christus noch nicht begriffen hatte.  Ich war getauft; aber das Neue Testament spricht wieder und wieder vom Glauben an Jesus Christus, durch den ein Mensch ewiges Leben erlangt, durch den ein Mensch gerettet wird.  Die Taufe allein macht mich noch nicht zu einem Christen.  Es muss der Glaube dazukommen.  Jesus möchte, dass man sein Vertrauen auf ihn setzt, dass man seine Gnade annimmt, dass man sein Leben ihm anvertraut.  Er will Herr sein im Leben jedes Menschen, er will jedem persönlich das Heil schenken und jedem persönlich begegnen.

Das in erster Linie müssten die Christen wieder deutlich sagen.  Ich glaube, die Zeit ist vorbei, wo wir davon ausgehen können, dass die Österreicher sowieso Christen sind.  Christen sind eine kleine Minderheit in unserem Land, auch wenn noch viele getauft sind.  Aber wir leben in einer nachchristlichen, neuheidnischen Gesellschaft.

Ich glaube, die Kirchen kranken daran, dass sie den Menschen die "Zumutung der Umkehr" nicht mehr zumuten.  Sie reden nicht mehr davon, dass Christsein etwas kostet - und zwar das ganze Leben, über das ich als Christ nicht mehr autonom verfügen kann, sondern das einem Anderen gehört, eben Christus.

Es war für mich tatsächlich der Beginn eines neuen Lebens, als ich bewusst begann, mit Jesus zu reden, auf ihn zu hören, ihm zu vertrauen, und ihm nachzufolgen.  Ich habe die Mitte meines Lebens gefunden, ich habe entdeckt, dass Jesus auf meine Nöte und Bitten eingeht, dass er mich leitet und erzieht.  Ich habe in der Beziehung zu Jesus den Sinn meines Lebens gefunden - und das ist keine bloß subjektive Aussage, denn jeder Mensch findet als Geschöpf und Gedanke Gottes seine Lebenserfüllung erst in der Beziehung zu seinem Schöpfer.  Und ich kenne viele, die das auch so erfahren haben.

Aber vielleicht fragen sie sich, wieso ich so viel von Jesus rede, wieso eine Gottgläubigkeit nicht auch genügt.  Den Schöpfer kann man jederzeit ehren, seine Wahrheit erkennen, seine Gebote befolgen, dem Gewissen folgen.  -- Kann man das wirklich ohne Jesus??  Christentum war und ist eine Gnadenreligion, das unterscheidet den christlichen Glauben von allen anderen Religionen.  Christsein heißt, aus der Gnade zu leben, als Begnadigter bzw. Begnadigte.  Das mag vielleicht den menschlichen Stolz verletzen: wer will schon auf die Gnade eines anderen angewiesen sein?  Wer will in der Schuld eines anderen stehen?

Der Apostel Paulus schreibt an die Epheser: EIN Eph 2:8 Denn aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft - Gott hat es geschenkt -, 9 nicht aufgrund eurer Werke, damit keiner sich rühmen kann.

In Jesus hat uns der Schöpfer seine Gnade erwiesen - und uns bleibt nur, uns begnadigen zu lassen, das Geschenk der Vergebung anzunehmen.  Das macht einen Menschen zum Christen, denn dazu ist Christus in die Welt gekommen - um den Kranken Heilung zu bringen.

EIN Mk 2:17 Jesus sagte: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.
Und im NT wird sehr deutlich, dass es vor Gott keine Gerechten gibt, sondern nur vermeintlich Gerechte, Selbstgerechte - und die konnten und können mit Jesus am Wenigsten anfangen!

EIN Joh 12:47 ich bin nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten.
Das war die Mission Jesu.  Und wer ihm als Retter vertraut, ist geheilt.

Diese Botschaft ist heute noch genauso aktuell wie vor 2000 Jahren, sie ist das zeitlose Evangelium von der Barmherzigkeit Gottes.  In dieser Gnade muss die Kirche leben und von dieser Gnade muss sie reden, wenn sie unsere Gesellschaft erneuern will.  "Die Hauptsache ist, dass die Hauptsache die Hauptsache bleibt!", hat einmal jemand gesagt.  Hier ist die Hauptsache.  Diese Botschaft hat die Welt verändert, und sie hat die Welt geprägt bis in unsere Tage.  Wir müssen sie glauben, leben und neu beleben.

Zusammenfassend könnte man sagen, dass ich eine christliche Erneuerung unserer Gesellschaft nur erwarte, wenn es zu einer echten Glaubenserneuerung kommt.  Zu dieser Glaubenserneuerung gehört, dass die Kirche ihre Relevanzkrise überwindet, indem sie die Trennung von religiös-sakralem Bereich und Alltagswelt überwindet.  Noch wichtiger scheint mir aber, dass sie zu ihrer ureigensten Aufgabe zurückfindet und Menschen zum persönlichen, im besten Sinne des Wortes radikalen Glauben an Jesus Christus ruft.  Das ist heute dringender nötig denn je, angesichts der dramatischen Entchristlichung unserer Bevölkerung.  Dann können wir auch Hoffnung haben für eine kulturelle, politische, umfassende Erneuerung unseres öffentlichen Lebens.

Ich glaube, dass trotz aller bedenklichen gegenwärtigen Entwicklungen Hoffnung angebracht ist.  Ich glaube, dass schwerere Zeiten die Frage nach Gott neu aufbrechen lassen werden.  Dass eine erneuerte Christenheit eine große Anziehungskraft ausüben kann.

Der letzte Grund für Hoffnung ist, dass Gott selbst das Heil der Menschen möchte; dort, wo Menschen in ihrem Verhältnis zu ihrem Schöpfer heil werden, haben sie auch einen heilsamen Einfluss auf ihre Umgebung.  Möge Gott viele heil machen und sie für andere heilsam werden lassen.  Danke.

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