Gemeinsamer Ethikunterricht löst die Probleme nicht

Der Kampf gegen Radikalisierung der Gesellschaft muss an den Wurzeln ansetzen

Von Kurt Igler

Bild: pixabay.com
In seinem Gastkommentar in "Die Presse" vom 2.10.2014 stellt Klemens Riegler-Picker eine durchaus treffende Diagnose: das europäisch-aufgeklärte Werteverständnis verliert zusehends seine Selbstverständlichkeit, ethische Grenzen werden in Frage gestellt, und die gemeinsame Wertebasis droht zu erodieren. Kein Wunder, dass ihn angesichts all dessen ein tiefes Unbehagen beschleicht.

Die Therapie in Form eines gemeinsamen Werte- und Ethikunterrichts in unseren Schulen kann jedoch nicht wirklich überzeugen, erst recht nicht die Vision eines Wertefundamentes, das “jenseits einer religiösen Überzeugung” liege,  nämlich im skeptischen, aufgeklärten europäischen Humanismus. Denn der von Riegler-Picker angesprochenen Radikalisierung eines Teils der islamischen Bevölkerung kann bestimmt nicht mit unverbindlichem Wertediskurs in der Schule begegnet werden. “Radikal”, also von der Wurzel her verkehrten Ideen können nur von der Wurzel her richtige Ideen entgegengesetzt werden, welche einem welt- und menschengemäßen, wirklichkeitsgerechten Weltverständnis entspringen...


Dass dem so ist, lässt sich an den ethischen Werten und Forderungen ablesen, die Riegler-Picker anspricht. Er erwähnt die Gleichberechtigung der Frau, grundlegende Rechte allgemein, das respektvolle Zusammenleben in der Gesellschaft, also Normen, die glücklicherweise noch von einem Gutteil der Menschen in unserem Land unterstützt und gelebt werden. Wenn dieser Konsens aber tatsächlich in Gefahr ist, wenn es wieder um die Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses menschlicher Würde, menschlicher Rechte, und humanen Umgangs miteinander geht, dann reicht es nicht, an diese “Werte” zu appellieren, ganz abgesehen davon, dass die Einführung des Wertebegriffs in die ethische Diskussion bei Nietzsche auf eine totale Neuordnung und Relativierung ethischer Normen abzielte. Sondern dann müssen wir wieder nach den eigentlichen Wurzeln dieser Normen fragen, nach ihrer absoluten und universalen Geltung, nach ihrer Begründung im Wesen des Menschen, der Welt, und letztlich im Wesen Gottes. All diese Fragen waren bereits Themen der antiken Philosophie, und nicht ohne Grund verankerten sie das gute Leben und Handeln in der Idee vom höchsten Gut bzw. des absolut Guten. Nur zu unserem eigenen Schaden ignorieren wir heute nach dem angeblichen Tod der Metaphysik diese Frage nach dem letzten Grund.

Denn die Aufklärung selbst ist ja in eine tiefe Krise geraten. Die selbstevidenten Vernunftwahrheiten lösen sich auf. Das Gute selbst ist eben nicht mehr selbstverständlich. Wer ich selbst wirklich bin, wer der Mensch wirklich ist, diese Fragen scheinen unbeantwortbar geworden zu sein und stürzen zahlreiche Menschen, denen es nicht mehr ausreichend gelingt, sich abzulenken, in tiefe existentielle Krisen. Die entscheidende Frage wird dann: wenn überhaupt, woher kann ich diese Dinge wissen? Wer kann mir Antwort darauf geben, wer ich bin, was der Mensch ist, und was wir tun sollen? Offensichtlich gewinnen wir überzeugende Antworten auf diese Fragen nicht aus uns selbst, nicht aus dem aufgeklärten “Humanismus” - das ist wohl eine zentrale Erkenntnis der jüngeren Geistesgeschichte. Daran knüpft sich natürlich die weitere Frage: wenn wir eine Antwort auf diese Fragen von außerhalb uns selbst brauchen, wem können wir dann für die richtige Beantwortung trauen? Wer wäre dafür der geeignete Kandidat?

Ich bestreite, dass es die Ethiklehrer mit “Äquidistanz zu allen Religionen” sind. Ich glaube auch nicht, dass man im Sinne von Hans Küng die verschiedenen Religionen auf eine gemeinsame ethische Substanz abklopfen und so ein hinreichendes „Weltethos“ herausdestillieren kann.
Nein, der Weg vorwärts ist in gewisser Weise einfacher, aber auch viel unbequemer: wir müssen neu die Wahrheits- und Handlungsansprüche der Religionen ernst nehmen, sie miteinander vergleichen, und schließlich eine entschiedene Wahl zwischen ihnen treffen. Wir müssen fragen: was spricht für Jesus, was für Buddha, was für Mohammed? Was sagen sie über das Wesen Gottes und des Menschen? Wie sieht es mit der Übereinstimmung von Worten und Taten im Leben der Religionsstifter aus - übrigens ein ausgezeichneter erster Lackmustest? Was lehren sie in Bezug auf menschliche Freiheit, Verantwortung, Würde, und Nächstenliebe, und wie begründen sie es jeweils?
Ethikunterricht mit (gleichem) Abstand zu den Religionen und “neutraler” Wertebasis versucht diesen zentralen, entscheidenden Fragen auszuweichen. Aus diesem Grund ist er nicht radikal genug, um der Radikalisierung entgegenwirken zu können. Er bleibt in denselben Unverbindlichkeiten und Zeitgeistanpassungen stecken wie die vielen Ethikkommissionen, welche das schlechte Gewissen über die ethische Entscheidungsunwilligkeit und -unfähigkeit der Verantwortungsträger beruhigen sollen.

Ethische Unterweisung und Wertevermittlung beginnen im Elternhaus und setzen sich fort in der religiösen Gemeinschaft und in der Schule. Es ist eine Illusion, zu meinen, gemeinsamer Ethikunterricht wäre die Lösung für die erkannten Probleme der Radikalisierung. Wir müssen wie gesagt viel “radikaler” ansetzen: bei einer erneuten Entscheidung für die weltanschauliche, philosophisch-religiöse Basis für unsere ethischen Normen, die letztlich unseren zivilisatorischen Errungenschaften zugrunde liegen. Wir müssen zurück zu unseren Wurzeln - und die liegen nicht an indischen Flüssen, in arabischen Wüsten oder germanischen Wäldern, sondern primär vor den Toren Jerusalems.

Dieser Artikel wurde in gekürzter Form in der Printausgabe von "Die Presse" am 7.10.2014 veröffentlicht. Link zur Online-Version:
http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/3882115/Gemeinsamer-Ethikunterricht-lost-die-Probleme-nicht
Der Artikel von Mag. Klemens Riegler-Picker erschien in "Die Presse" am 2.10.2014, S. 27.
Online: http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/3879121/Wie-man-der-Radikalisierung-begegnen-konnte


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