Drei Geschichten - Geistige Hintergründe zu "Manhattan"

von Kurt Igler

(Gekürzt erschienen als Gastkommentar in „Die Presse“ vom 14.9.2001, S.2)

Es ist ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen, sein Leben in eine zusammenhängende Geschichte einzuordnen. Dabei geht es um "Geschichte" im doppelten Sinn: den historischen Ablauf von Ereignissen wie auch eine Erzählung, die den Ereignissen einen Sinn und einen Zusammenhang gibt. Die katastrophalen Ereignisse vom 11. September in New York sollten auch uns Österreicher zum Nachdenken darüber anregen, in welche "Geschichte" wir uns selber einordnen wollen, und welche Auswirkungen diese Einordnung haben kann...


Ich sehe – vorausgesetzt, die Attentate gehen tatsächlich auf das Konto islamischer Fundamentalisten – drei Geschichten, die hier aufeinander prallen. Die erste ist die abendländisch-christlich-freiheitliche Geschichte. Es ist die Geschichte, dass Gott den Menschen in seinem Bilde erschaffen hat, dass er sein Geschöpf in Jesus Christus besucht und erlöst hat, und dass Christus am Ende der Geschichte einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird, in denen Gerechtigkeit wohnt. Im Laufe dieser Geschichte haben die Menschen des christlichen Kulturkreises erkannt, dass die Errichtung des Paradieses Gott vorbehalten bleiben muss, dass der Versuch, Gottes Herrschaft mit Gewalt und politischen Mitteln zum Durchbruch zu verhelfen, ein Irrweg war. Die augustinisch-lutherische 2-Reiche-Lehre war ein entscheidender Schritt zu dieser Erkenntnis, und der 30-jährige Krieg hat praktisch gezeigt, wohin die Instrumentalisierung der Politik für religiöse Zwecke führt. Der Mensch in dieser Geschichte braucht nun nicht mehr versuchen, paradiesische Zustände schon hier und jetzt zu schaffen, sondern kann sich bescheiden und die Aufgabe menschlicher Politik darin sehen, Recht zu gewährleisten, Ordnung aufrechtzuerhalten, und Freiheit zu sichern. Der Staat braucht den Menschen nicht zu "beglücken" mit dem Versuch, innerweltliche Utopien durchzusetzen. In der Zeit zwischen Auferstehung und Wiederkunft Christi ist der Staat eine göttliche "Notverordnung" zum Wohle des Menschen, um Chaos und Anarchie zu verhindern. Die Erfüllung der religiösen Sehnsüchte und die Heraufführung idealer Zustände kommt erst am Ende. Staat und Kirche sind zwei verschiedene Dinge.

Dieser Geschichte steht die morgenländisch-islamische Geschichte gegenüber. Im Gegensatz zur ersteren gibt es hier keine Trennung von Staat und Religion. "Islam" ist totale Unterwerfung unter Allah und seinen Willen. Dieser Wille betrifft das gesellschaftlich-politische Leben genauso wie das private. Jeder Moslem ist aufgerufen, sich dafür einzusetzen, dass diesem Willen in allen Lebensbereichen zum Durchbruch verholfen wird.
Diese Geschichte erzählt auch von Allah als dem Schöpfer. Aber nicht als Erlöser. Alles hängt davon ab, sich in diesem Leben Allah zu unterwerfen und seinen Willen zu tun. Wer darin besteht, bekommt Anteil an der Auferstehung und am ewigen Leben im Paradies. In diese Geschichte sieht sich der Moslem verwoben. Er macht sich dafür stark, dass in allem Allahs Wille geschehe – schon jetzt, auch im Gemeinschaftswesen. Der Islam ist die letzte, größte Religion, die Erfüllung der Religionen und Prophetien, und sein Siegeszug ist gewiss und erforderlich.

In dieser Geschichte steht dem Siegeszug des Islam der Westen im Wege. Teilweise durch seine Unterstützung der Juden, teilweise durch seine wirtschaftliche Macht und Unterdrückung, teilweise durch seine moralische Dekadenz. Die USA sind die Vormacht dieses Feindes des Islam. Und es nimmt ja auch nicht ganz wunder, dass der Westen als dekadent und als Verführer zum Bösen
betrachtet wird. Menschen im Westen, die sich noch als Christen verstehen, können über viele kulturelle und gesellschaftliche Erscheinungen auch nur den Kopf schütteln.

So prallt die Absicht, den Willen Gottes auch im öffentlichen Leben durchzusetzen und das eine Reich des Islam zu errichten, auf die Überzeugung, dass der Staat von Gott nur eine begrenzte Ordnungs- und Schutzfunktion übertragen bekommen hat. Dass man niemals mit Gewalt und Druck Glauben und Moral erzwingen darf. Dass zwar gewisse Rechte und Institutionen unbedingt geschützt werden müssen, aber dazu eben das Recht auf Freiheit, auf freie Meinungsäußerung und Religionsausübung, gehört.

Dieser Konflikt wird die Zukunft der Weltpolitik mitbestimmen. Diese zwei Geschichten werden miteinander konkurrieren um Anerkennung und Annahme durch die Menschen und Nationen. Allerdings: die islamische Geschichte stellt sich zur Zeit wesentlich stärker dar als die christliche. Das Christentum in der westlichen Welt ist im Niedergang begriffen. Es zeigt dramatische Zerfallserscheinungen. Daher stellt sich die Frage, ob die abendländisch-christliche Geschichte der Konkurrenz überhaupt gewachsen ist.

Denn die Mehrheit der westlichen Bevölkerung hat sich längst eine andere, eine dritte Geschichte gegeben: der Mensch ist durch Zufall entstanden, er ist ein höherentwickeltes Tier mit geistigem Bewusstsein, und er wird sich in Zukunft noch weiter entwickeln. Es gibt einen kontinuierlichen Fortschritt, wenn sich der Mensch nur nicht selbst auf dem Weg vorzeitig auslöscht. Der Einzelne hat keinen besonders hohen Stellenwert in dieser Geschichte, er ist ja nur eine unvollkommene Momentaufnahme in der Entwicklung, und sein Daseinszweck ist es, das Leben so gut wie möglich auszukosten, solange es währt. Werte, Moral, Wahrheit haben hier keine große Bedeutung, sind relativ und von den Menschen willkürlich bzw. nach Macht- und Interessenlage gesetzt.

Gibt diese dritte Geschichte innere Kraft? Vermag sie zu beflügeln? Verleiht sie Disziplin, Engagement, Vitalität? Man möge das selbst beurteilen. Es scheint mir nicht möglich, dass diese Geschichte der islamischen standhalten kann. Die christlich-abendländische könnte es. Nur: wer macht sie noch zu seiner eigenen Geschichte?

September 2001

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Ein Reich im Zwiespalt mit sich selbst? Österreichs Christen und Conchita Wurst

Eingehakt

Gemeinsamer Ethikunterricht löst die Probleme nicht